Gastbeitrag

Moria: Eine Katastrophe,
die sich anbahnte

Der Werdenberger Ralf Eggenberger war als Helfer auf der Insel Lesbos. Von der Schweiz aus unterstützt er weiterhin Menschen vor Ort.


Brände brachen mehrfach aus im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos: Männer beim Löschen eines Brandes im Jahr 2017. (Bild: zVg)

Von Ralf Eggenberger

Der Werdenberger Ralf Eggenberger betätigte sich seit 2016 als Helfer für geflüchtete Menschen in Griechenland. Im Rahmen dieser Tätigkeit betreute er unter anderem auch Geflüchtete aus dem Lager Moria. Er ist Gründer der Hilfsorganisation «Human Riddim Care», die Direkthilfe vor Ort leistet.

Bereits morgens um 5 Uhr erhielt ich die ersten Fotos und Videos des Grossbrandes im Camp Moria von einem Freund vor Ort. Am
9. September 2020 sind auf einen Schlag 13 000 Menschen obdachlos geworden. Nebst dem letzten Hab und Gut verloren viele auch alle relevanten Dokumente, die sie für den Asylprozess so dringend benötigen.

Hilfe wurde behindert

Mytilini, die Hauptstadt der Insel Lesbos, wurde sofort von der örtlichen Polizei und dem Militär abgeriegelt. Die Strassen wurden mit Bussen blockiert und die Leute unter anderem mit Tränengas von der Stadt ferngehalten. So waren die Menschen in einem Korridor zwischen Moria und Mytilini gefangen.

In der Brandnacht schliefen viele Mütter mit ihren Kindern auf dem Friedhof, da sie sich dort eher geschützt vor Polizisten und Faschisten fühlten. Viele übernachteten auf der Strasse, die von Moria nach Mytilini führt, einige suchten sogar Schutz in Abfallcontainern.

Für Hilfsorganisationen vor Ort war es praktisch unmöglich, Hilfe zu leisten oder Wasser oder Essen abzugeben – einerseits wurden sie durch die Polizei daran gehindert, andererseits waren Rechtsextreme unterwegs, die Helferinnen und Helfer angriffen. Mit harten Mitteln hielt die Polizei alle Menschen auf der Flucht in Schach.

Es fehlte schon 2017 an allem.

Vier Jahre zuvor, im Juli 2016, entschloss ich mich, für die Organisation «Schwizerchrüz» Hilfe vor Ort zu leisten. In Sindos, einem Dorf in der Nähe von Thessaloniki, betreuten wir damals zwei Flüchtlingscamps mit je 600 Bewohnern.

Nachdem im Januar 2017 das UNHCR den Flüchtlingen entweder Wohnraum zur Verfügung gestellt hatte oder sie durch den Asylprozess in Griechenland Asyl erhielten oder aber in andere europäische Länder gebracht wurden, löste die griechische Regierung diese beiden Camps auf.

Während meiner Zeit in Sindos hörte ich immer wieder von den schlechten Bedingungen, welche auf Lesbos, besonders im Camp Moria, herrschten. Daraufhin entschlossen wir uns Anfang Februar 2017 nach Lesbos zu reisen, um dort ein Community Center zu eröffnen.

Ein paar Stunden «Normalität»

Dieses Center sollte den Menschen auf der Flucht ein Ort der Sicherheit und Ruhe sein, ihnen Beschäftigung bieten und Informationen vermitteln. Durch die Spenden an «Schwizerchrüz» stellten wir Essen, Hygieneartikel und Kleider zur Verfügung.

Gemeinsam mit den Flüchtlingen bauten wir eine Schule, eine Bibliothek, ein Café und ein Gym auf. Ein Coiffeur und ein Schneider boten ihre Dienste an. Die Leute konnten dort musizieren, Sport treiben und einfach für ein paar Stunden «Normalität» erleben.

Der Ort des Community Centers, kurz vor Mytilini und 45 Minuten zu Fuss vom Camp Moria entfernt, war bewusst so gewählt, denn im Camp selbst gab es täglich Gewalt und Ausschreitungen. Die Polizei ging damals schon mit Knüppeln gegen die Campbewohner vor, schoss Tränengaspetarden in Wohncontainer der Flüchtenden und bewarf sie mit Steinen.

Wie sogar eine schwangere Frau geschlagen wurde, musste ich selbst miterleben. Das Camp war offen, theoretisch konnte jeder hinein und hinaus, wann er wollte – ausser Journalisten und Mitarbeitende der Hilfsorganisationen.

Die Polizei behielt sich vor, nach Ermessen Flüchtende in den Gefängnissektor des Camps zu sperren. Das gesamte Camp Moria war ursprünglich ein griechisches Gefängnis. Der Stacheldraht und die Mauern rund um das Camp sind nach wie vor vorhanden.

Die Situation war allen bekannt

Auch zu jener Zeit wurde ich persönlich von Einheimischen angegriffen, dies aus dem einzigen Grund, weil ich den Flüchtenden half. Damals befanden sich «nur» rund 7000 Leute im Camp, aber die Zustände dort waren bereits mehr als menschenunwürdig. Die sanitären Anlagen reichten niemals aus, die Insassen mussten drei Stunden an der prallen Sonne für ein Essen anstehen, die ärztliche Versorgung war völlig unzureichend – sprich, es fehlte schon 2017 an allem.

Temperaturen um den Gefrierpunkt sind besonders für Kinder und Babys lebensgefährlich

Heute, einige Tage nach dem Grossbrand in Moria, begann die Regierung mit der Errichtung eines neuen Camps nahe Mytilini auf militärischem Boden, direkt am Meer.

Hitze, Kälte und Nässe
wechseln sich ab

Direkt am Meer mag für Touristen schön klingen, aber die Realität für die Flüchtenden sieht so aus: Es herrschen raue Bedingungen, der starke Wind bläst orkanartig auf die Zelte, im Winter herrschen eisige Temperaturen und im Sommer ist die Hitze kaum auszuhalten, da es weder Bäume noch Sonnenschutz gibt.

Die Abstände zwischen den Zelten sind viel zu klein, so kann im Winter kein Feuer vor dem Zelt gemacht werden, obschon es bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt besonders für Kinder und Babys lebensgefährlich ist. Auf einen schützenden Untergrund mit Bodenmatten oder Paletten wurde verzichtet. So kann das Regenwasser direkt ins Zelt eindringen.

Auch jetzt wird die Versorgung der Leute nur auf das Allernötigste beschränkt, gemäss meiner letzten Information sind dies insgesamt zwei Liter Wasser pro Tag pro Person – zum Trinken und für die Körperhygiene. Auch fehlt es an sanitären Anlagen, sodass viele gezwungen sind, das eigene Geschäft im Meer oder am Rande des Camps zu erledigen.

Afrikaner werden im Asylprozess links liegen gelassen

Die Polizei treibt die Menschen unter Einsatz von Tränengas von der Strasse weg in dieses Camp «Moria 2.0». Einige Menschen haben Angst, in das neue Camp zu gehen und ziehen es vor, als Obdachlose auf der Strasse zu sein.

Regelmässige Ausschreitungen und die katastrophalen Lebensbedingungen bringen sie soweit. Durch den Rechtsrutsch in der griechischen Regierung ist es für Hilfsorganisationen noch schwieriger geworden, vor Ort Unterstützung zu leisten.

Auch der Asylprozess wurde erneut erschwert. Besonders schwierig ist es für Menschen aus den Ländern Kongo, Sierra Leone, Mali, Nigeria, Äthiopien und Eritrea. Bezüglich Anhörungen im Asylprozess werden Personen aus diesen Ländern links liegen gelassen, da sie als letzte Priorität gelten. Einerseits wird ihnen nicht geglaubt, wie die Lage in ihren Heimatländern wirklich aussieht, andererseits werden sie schlichtweg als minderwertig angesehen.

Dabei möchte ich betonen, dass Personen aus dieser Herkunft während meiner gesamten Zeit vor Ort nie für Ausschreitungen oder Gewaltbereitschaft verantwortlich waren.

In einem riesigen Camp, wo so viele Nationen aufeinandertreffen, können die Konflikte und Kriege, die Folterungen und die Verstümmelungen, nicht einfach halt machen oder draussen gelassen werden. Diese Intentionen und Erfahrungen sind weiterhin allgegenwärtig, auch oder gerade wenn alle eng zusammen gepfercht leben müssen.

Die Verantwortung liegt in Brüssel und Bern

Seit meiner Rückkehr in die Schweiz im Frühling 2018 halte ich regen Kontakt zu Personen auf der Flucht, die ich seit 2017 betreute und auch heute noch aus der Ferne betreue. Einer dieser Freunde kann als freiwilliger Übersetzer Teileinsätze für «Médecins Sans Frontières» leisten.

Von ihm erhalte ich unter anderem die aktuellsten Informationen, so auch vom Grossbrand vor rund zwei Wochen und der täglichen Situation vor Ort auf der Insel. Die Neuigkeiten aus Athen erhalte ich von weiteren Menschen, die ich unterstütze. Die Frage nach der Verantwortung bezüglich des Brandes stellt sich für mich nicht, denn diese ist klar. Mein Blick richtet sich nach Brüssel und Bern.

Unterstützen?

Jede finanzielle Unterstützung ist nur ein kleiner Tropfen auf den heissen Stein – und doch so immens wichtig für die Leute dort. Wenn Sie meine Direkthilfe unterstützen möchten, finden Sie unten die nötigen Angaben. Im Namen der Menschen vor Ort danke ich Ihnen für jede Art von Aufmerksamkeit, die Sie dieser humanitären Katastrophe schenken.

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Weiterführende Informationen und Links:

Hilfsorganisation «Human Riddim Care»
CHF Bankkonto:  Raiffeisen Schweiz Genossenschaft, Raiffeisenplatz, 9001 St. Gallen
IBAN:   CH94 8080 8007 8872 1265 1
SWIFT/BIC:   RAIFCH22XXX

https://www.humanriddimcare.com/

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