Integration
Keiner verlässt die Heimat aus Langeweile
Jeder redet über mögliche materielle, bürokratische oder politische Lösungen für die Flüchtlingskrise. Özcan Tümen aus Au redet über seine Gefühle.
In meinem Herkunftsland, der Türkei, sind weder «Auswandern» noch «Einwandern» Fremdwörter. Sie gehören zu unserer Geschichte und sind aufgrund der aktuellen Probleme allgegenwärtig.
In meiner Heimat handeln die am meisten geschätzten Geschichten und Lieder von der Ferne und der Flucht. Die meisten dieser Geschichten habe ich gelesen, die Lieder gehört. Und jetzt gleicht sich mein eigenes Leben diesen Geschichten und Liedern an. Das ist ein
merkwürdiges Gefühl.
Mit vielen Gefühlen
sich selbst überlassen
Als Flüchtling versuche ich gerade, mein Leben wiederaufzubauen, in einem unbekannten Land, wo die Menschen eine fremde Sprache sprechen. Jeder scheint zu wissen, wer du bist, aber du kennst niemanden. Auf der Strasse, im ÖV oder in den Einkaufsläden ist man den Blicken ausgesetzt. Manche voller Abscheu, Wut oder Mitleid. Sie
sind spürbar und offensichtlich. Als Familie machten wir prägende
Erlebnisse durch. Im ersten Flüchtlingsheim konnte unser kleiner Sohn vier Tage lang nicht auf die Toilette und wurde dadurch krank. Verzweiflung ist das Schlimmste. Das erlebte ich mehrmals. Es ist, als
würde man ein Lebewesen aus seinem eigenen Lebensraum herausreissen.
Spüren, wie unerwünscht man ist
Ich versuche ehrlich, mich zu integrieren. Aber wie, wenn du einem Mitarbeiter mit kollegialer Absicht auf die Schulter klopfst und dieser kräftig deine Hand schlägt? Was soll ich zu der Person sagen, die vor meinen Augen in den Pausenraum läuft, extra um die dort liegenden Äpfel wegzubringen? In meinem Leben habe ich – abgesehen von den Aprikosen aus dem Nachbargarten, die ich wegen kindlicher Naivität pflückte – noch nie etwas gestohlen. Und ich hätte nie gedacht, dass man mich dessen bezichtigen könnte.
Färben solche Vorurteile nun schon auf meine eigenen Kinder ab? Das neue Leben scheint bei ihnen ein gegensätzliches Bild zu hinterlassen: Monatelang brachte ich mein Kind in die Schule. Jedes Mal vor der Schule hörte es auf, türkisch zu sprechen und entfernte sich in Windeseile von mir.
Die Geflüchteten
tragen nicht die Schuld
Das, was wir erlebten, erlebten wir nicht als einzige. Tausende von Menschen erlebten das Gleiche, wenn nicht sogar Schlimmeres. Kein Mensch verlässt seine Heimat aus Langeweile, das ist doch selbstverständlich. Natürlich würden wir gern in unserer Heimat leben. Leider liessen die gesellschaftlichen Strukturen und die Politik dies nicht zu.
Wir sind das Ergebnis mächtiger Länder in Europa und Amerika, deren wirtschaftliche und politische Vorteile uns hierher geführt haben. Die öffentliche Meinung führt zu Vorurteilen gegenüber den Flüchtlingen in der Bevölkerung und zu Feindseligkeit. Wenn die Europäer ihre Aussenpolitik hinterfragen würden, eine aktive Haltung einnehmen
würden, wären wir weder Flüchtlinge noch hätte Europa so grosse Schwierigkeiten. Jeder würde in seiner Heimat leben, glücklich, sicher und der Zukunft positiv entgegenblickend.
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