Fluchtgeschichten

«Ich sehe keine Zukunft mehr»

Karzan Faidhalla (33), ist Kurde und steht kurz vor seiner Ausschaffung. Vor sechs Jahren ist er aus dem Irak in die Schweiz gekommen, in den Kanton Aargau. Hinter ihm lag eine schreckliche familiäre Tragödie im Zusammenhang mit Blutrache. Für Faidhalla steht fest: «Wenn ich zurückkehre, werde ich umgebracht.»


Überall Stoppschilder: Der junge Kurde Karzan Faidhalla hat keine Ahnung, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. (Bild: PD)

Von Hozan Salashor, Kurdistan/Irak

Hozan Salashor ist Kurdin und kam 2010 in die Schweiz. Sie spricht sechs Sprachen und arbeitet als Dolmetscherin. Hozan Salashor ist Mutter eines Sohnes und setzt sich für die Schaffung eines unabhängigen Staates für die Kurden ein.


Nach seinem ersten negativen Bescheid des Schweizer Migrationsamtes hatte er Beschwerde eingelegt. Vor Kurzem wurde sie abgelehnt (Gefährdung als nicht gegeben, Ausweise als gefälscht eingestuft). «Ich stehe vor lauter verschlossenen Türen», sagt Karzan Faidhalla. Er setzt jetzt alle Hoffnung auf eine Einstufung als Härtefall.

«Das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) sowie das Asylgesetz (AsylG) sehen in bestimmten Fällen die Möglichkeiten vor, ausländischen Personen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, wenn deren Verweigerung zu einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall für die betroffene Person führen würde.»

Staatssekretariat für Migration (SEM)

«Vorläufig aufgenommene Personen und (abgewiesene) Asylsuchende können unter gewissen Voraussetzungen eine Härtefallbewilligung (B-Bewilligung) beantragen und damit ihre Rechtsstellung in der Schweiz verbessern bzw. regularisieren.»

Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen (KKF)

Karzan Faidhallas Hoffnung steht auf wackligen Beinen, das ist im bewusst: «Als Härtefall werden meist Familien eingestuft, keine alleinstehenden Männer.» Bis Ende August soll er Bescheid bekommen. Was, wenn auch dieser Bescheid negativ ist? Darauf hat Faidhalla keine Antwort. Wie auf so vieles. «Keine Ahnung.» «Ich weiss nicht.» Karzan Faidhalla antwortet häufig resigniert. Sein Deutsch ist gut. Er formuliert freundlich, zuvorkommend. Mit Schweizerdeutschen Einsprengseln. Er habe sich leidenschaftlich für seine Integration engagiert, sagt er. «Ich habe alles gemacht, was ich konnte. Jetzt kann ich nichts mehr tun.» Er klingt verzweifelt.

Ausser Gefecht

«Ich sehe keine Zukunft mehr», sagt Faidhalla. An einem gewissen Punkt habe er sogar versucht sich das Leben zu nehmen. Aber «man muss versuchen, korrekt zu bleiben, menschlich zu bleiben». Er esse nicht mehr, schlafe kaum, grüble ständig. Dazu kommt, dass Karzan Faidhalla zurzeit an Krücken geht. Beim Volleyballspielen im Volleyballverein hat er sich den Meniskus verletzt. Es scheint, als wäre er ganz ausser Gefecht gesetzt. «Es kam alles auf einmal», sagt er. Die OP, der negative Bescheid. Man behandle ihn wie einen dummen Menschen, sagt Faidhalla. Und was er meint ist: Er fühlt sich hilf- und machtlos. Er hat alles versucht und alles verloren. Dabei kam er in dieses Land mit einem Rucksack voller Talente, mit viel Hoffnung und noch mehr Motivation.

Im Irak hat Karzan Faidhalla Human Resources studiert, mitgeholfen ein Buch zu schreiben, als Schreiner und Elektrotechniker gearbeitet, einem Regisseur feministischer Filme assistiert, Gedichte veröffentlicht. Er liebt das Kino und ist ein begeisterter Leser von Romanen. Er möchte in Kontakt kommen mit Land und Leuten und geht offen auf die Menschen zu. In der Schweiz angekommen hat er sich engagiert in seinen Integrationsprozess gestürzt – schon im ersten Jahr lernte er autonom die Landessprache Deutsch. Er besuchte Integrations-Treffen, schloss sich Sportvereinen an, knüpfte Kontakte zu möglichen Arbeitgebern und Referenzpersonen. Er arbeitete sich Schritt für Schritt in sein neues Leben hinein. Dann ging plötzlich eine Tür nach der anderen zu.

«Warum bekomme ich keine Chance?»

«Ich sehe nicht, was ich falsch gemacht habe», sagt Faidhalla. «Ich habe nie Probleme gemacht.» Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen, die Sachen beschädigten, Streit anzettelten oder mit Drogen dealten habe er sich immer korrekt verhalten. Im Gegensatz zu ihnen habe er aber keine Bewilligung erhalten. Er würde dem Schweizer Staat auch nie auf der Tasche liegen wollen. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen, die hier von der Sozialhilfe lebten. Er würde zu 100 Prozent arbeiten und habe auch die entsprechenden Angebote erhalten. Trotzdem habe er im Gegensatz zu den anderen keine Bewilligung erhalten. «Warum? Warum bekommen Leute, die hier Probleme machen, eine Chance und ich nicht?» Karzan Faidhalla ist ratlos.

Man spürt, da sitzt ein intelligenter, engagierter, junger Mensch, der sein Leben mit beiden Händen packen wollte. Der seinem Umfeld viel zu geben hätte. Ein Indiz dafür ist, dass ihn in diesen sechs Jahren mehr als zehn Arbeitgeber gerne eingestellt hätten. Ihm seien gute und gut bezahlte Jobs angeboten worden, so Karzan Faidhalla. Leider habe ihn das Amt für Migration nicht arbeiten lassen. «Da waren überall Stopp-Schilder», sagt er so, als ob er es immer noch nicht ganz glauben könnte.

Und, mit einer Spur Sarkasmus:

«Vielleicht ist es Gottes Wille, vielleicht ist es mein Schicksal.»

Karzan Faidhalla

Er könne jetzt nicht mehr tun als warten. Ein Zustand, der ihn spürbar zermürbt. «Wenn ich eine Million Franken hätte, sähe mein Weg wohl anders aus. Aber wer bin ich mit 7 Franken pro Tag?», fragt er bitter. Kaum Geld, die Ausweise eingezogen – ist man da noch ein Teil der Gesellschaft? Ist man da überhaupt noch Mensch?

Das Vertrauen verloren

Karzan Faidhalla hat sein Vertrauen in den Schweizer Staat verloren. «Ich dachte, das Schweizer Gericht behandle alle gleich», sagt er. Faidhalla glaubt an das Gesetz und es ist ihm wichtig, «korrekt zu bleiben». Seine Dokumente wurden beim SEM (Staatssekretariat für Migration) als Fälschungen deklariert und eingezogen. Warum, wisse er nicht. Er habe nie etwas Falsches gemacht. Seine Straf- und Betreibungsregister seien leer.

Faidhallas zweitgrösster Wunsch im Moment ist ein eigenes Zimmer. «Ein eigenes Zimmer, in dem ich endlich wieder einmal durchschlafen kann.» Aber ohne Dokumente kann man auch kein Zimmer mieten. Selbst wenn man das Geld dazu hätte. Seit sechs Jahren lebt der junge Kurde in provisorischen Gemeinschaftsräumen. Das eine Mal mit 270, das andere Mal mit 50 einander fremden Menschen. Gestrandete Zufalls- und Schicksalsgemeinschaften, alle in fragilen Lebenssituationen. Da er momentan an Krücken geht, wohnt er abwechselnd bei Freunden in Zürich und Basel. Ein junger Mann in der Blüte seines Lebens, dem der Boden immer schneller unter den Füssen wegschmilzt.

«Zuhause gibt es keine Sicherheit»

Karzan Faidhalla kann sich nicht erklären, warum er nach sechs Jahren engagierter Integration zwei negative Bescheide bekommen hat. «Hätte ich in meiner Heimat keine Probleme, wäre ich doch nie von dort weggegangen!» sagt er mit Nachdruck. «Gehe ich jetzt zurück, werde ich hundertprozentig von meiner Verwandtschaft umgebracht. Zuhause weiss jeder Bescheid. In Kurdistan gibt es keine Sicherheit.» Es gibt keine Gerichte, die von einem neutralen Standpunkt aus urteilen, Unstimmigkeiten werden durch die Familien geregelt.

Bis Ende August wird Faidhalla warten und hoffen. «Ich kann nichts mehr tun.» Wenn alle Stricke reissen, wird der 33-Jährige wohl als Sans Papier in die Illegalität abtauchen. Im Zuge der Dublin-Verordnung ist ihm der Weg in umliegende Länder verwehrt.

Kurzinterview

Die Schweiz könnte profitieren

Von Hozan Salashor


Karzan hat vor einiger Zeit den Kontakt zu mir gesucht, weil er vernommen hatte, dass ich als Kurdin in der Schweiz gut integriert sei. Seither gebe ich ihm Tipps, berate ihn in seiner Lebenssituation, erkläre ihm neue Fremdwörter. In diesem Austausch habe ich ihn als wachen, intelligenten und talentierten jungen Menschen kennengelernt. Ich bin überzeugt, die Schweiz könnte von Menschen wie ihm profitieren.

In jüngerer Zeit gibt es eine auffällige Häufung an negativen Bescheiden. Es gibt viele Fälle, in denen Dokumente aus dem Irak als gefälscht deklariert werden. Ich frage mich warum. Ich frage mich auch, warum ein Staat bei der Beurteilung, ob jemand im Land bleiben darf oder nicht, nicht auch darauf schaut, was ein Mensch mitbringt.

In diesem Zusammenhang habe ich Karzan vier Fragen gestellt:

Karzan, jeder von uns hat einen Rucksack mit verschiedenen Sachen dabei. Was hast du mitgebracht?
Wir Kurden sind Allrounder. Ich mache alles. Meine Leidenschaft ist die Kunst, sind Film, Musik und Literatur.


Wie war dein Leben zuhause? Was hast du gelernt?
Ich habe Human Resources studiert, arbeitete neben dem Studium als Elektrotechniker und Schreiner, habe ein Buch lektoriert und Gedichte geschrieben. Wörter interessieren mich.


Wie wolltest du in der Schweiz deine Fähigkeiten einbringen? Was war die Idee?
Ich würde gern anderen helfen, wäre gern Vorbild für Einwanderer, würde Menschen aus dem Iran, aus Eritrea, Afghanistan etc. helfen, den Weg in die Schweizer Gesellschaft zu finden. Sie menschlich unterstützen.


Falls du nicht als Härtefall eingestuft wirst: Wie stellst du dir das Leben danach vor?
Ich weiss es nicht. Ich habe keine Ahnung.


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